Erste Hilfe – Wenn das Herz stillsteht, gehts um Minuten. Freiwillige Nothelfer sind meist schneller vor Ort als die Ambulanz. Was sind das für Menschen, die stets bereit sind, andere zu retten?

Stefan Müller
Ein junger Mann liegt regungslos am Boden. Über ihn gebeugt, schwer atmend, kämpft Stefan Gasser um dessen Leben. Kräftig drückt er in regelmässigen Abständen auf die Brust und hofft, dass  Herzschlag und Atmung rasch wieder einsetzen.
Die Situation ist zum Glück nur gestellt. An einem Phantom, also einer Art Puppe, üben Feuerwehroffizier Gasser und seine Kollegen regelmässig  den Ernstfall. Ein solcher Herznotfall dauert meist nicht mehr als 60 Minuten – Minuten, die über Leben und Tod entscheiden.

Lücke in der Rettungskette

Jährlich erleiden in der Schweiz bis gegen 8000 Menschen einen Herzstillstand. Ein Schicksal, das jedem Menschen widerfahren kann. Erfolgt dann nicht sofort Hilfe, sinken die Überlebenschancen mit jeder Minute um 10 bis 15 Prozent. Bis die professionellen Rettungskräfte eintreffen, dauert es aber, je nach Anfahrtsweg und Verkehrsverhältnissen, durchschnittlich 10 bis 20 Minuten – also zu lange. Freiwillige Nothelfer oder «First Responders» vor Ort vermögen diese Lücke in der Rettungskette zu schliessen. Denn sie sind bereits in der  Nähe und können so rascher mit der Wiederbelebung beginnen. First Responders sind ausgebildete Nothelfer und werden regelmässig geschult.

Kein Platz für Helden

Stefan-Gasser_First-Responder

Nothelfer aus Überzeugung: Stefan Gasser übt an einem Phantom. Foto: Eva Haupt

Der 45-jährige Stefan Gasser in Jeans und Turnschuhen findet sich pünktlich im Feuerwehrdepot ein, wo er oft anzutreffen ist. Seit 27 Jahren gehört er der freiwilligen Feuerwehr an, seit 10 Jahren dem 17-köpfigen Team der First Responders der Gemeinde Zuzwil, einem Ort mit rund 4500 Einwohnern im Kanton St. Gallen.
Ein prägendes Erlebnis brachte den kontaktfreudigen Gasser zu den First Responders: «Ich war in Italien in den Ferien bei einer Reanimation dabei, allerdings bei einer leider erfolglosen», sagt der leidenschaftliche Feuerwehrmann. «Das hat mich danach länger beschäftigt.» Dieses Erlebnis führte dazu, dass er später als First Responder einsteigen wollte. «Menschen rasch mit einfachen Mitteln helfen, sodass sie nachher möglichst ohne bleibende Schäden weiterleben können», erläutert er seine Überzeugung. Sein Engagement stösst nicht rundum auf Respekt, gelegentlich gibt es auch kritische Stimmen. Warum er den Helden spielen müsse, bekommt er etwa zu hören. «Wer jedoch ein Held sein will, ist hier am falschen Ort», stellt Stefan Gasser klar. Denn es sei eine Teamarbeit, Einzelkämpfer hätten keinen Platz. Es gebe auch keinen Chef. Nur jemanden, der den «Lead» übernehme, meist in Zweierteams.

Alles liegen lassen

In der Feuerwehr Zuzwil kommen die First Responders jährlich etwa achtmal zum Einsatz. Die Notrufzentrale 144 alarmiert die Helfer jeweils über Handy und Pager, wenn beim eingegangenen Notruf lebensbedrohliche Stichworte gefallen sind. Wer alarmiert wird, lässt alles stehen und liegen – egal ob bei der Arbeit, nachts im Bett oder in den Ferien – und begibt sich über das Feuerwehrdepot an den Einsatzort. Obwohl Stefan Gasser als Projektleiter einer Immobilienfirma stets einen vollen Terminkalender hat, unterbricht er seine Arbeit sofort, wenn ein Notruf eingeht.
Gasser erinnert sich an einen seiner letzten Einsätze. Eine jüngere Frau lag leblos in ihrer Wohnung. Über eine halbe Stunde versuchten die Nothelfer, sie wiederzubeleben. «Wir hatten sie schon fast aufgegeben und überlegten bereits, wie weiter, als plötzlich das Herz wieder schlug», freut er sich noch heute. Die Frau konnte bald darauf das Spital wieder ohne bleibende Beeinträchtigungen verlassen.
Ein Fall bewegte die Zuzwiler First Responders vor einigen Jahren ganz besonders: ein ersticktes Kleinkind. «Wir kamen zu spät», erzählt Stefan Gasser leise. Aufgrund des tragischen Ereignisses erhielten danach sämtliche Retter professionelle Unterstützung. Ein Careteam vom Rettungsdienst wurde zur Nachbesprechung beigezogen. Jedem First Responder steht bei Bedarf  psychologische Hilfe zur Verfügung.

Mit wenig Geld viele retten

Trotz solchen Misserfolgen weiss man aus anderen Regionen, dass das System der First Responders die Überlebensrate bei Herzstillstand deutlich erhöht. So zum Beispiel im Musterkanton Tessin, der über ein dichtes Netz von rund 4500 freiwilligen Nothelfern verfügt (entspricht mehr als einem Prozent der Tessiner Bevölkerung). Hier vermochte man die Überlebensrate auf bis zu 20 Prozent zu erhöhen gegenüber schweizweit von weniger als 10 Prozent.
Auch der Kanton Bern nimmt bei den First Responders eine führende Rolle ein. 1700 Freiwillige, verteilt auf das ganze Kantonsgebiet, stehen auf Abruf bereit. Gleichermassen Männer und Frauen jeden Alters, aus Berufen wie Feuerwehr, Polizei, Pflege, Bademeister sowie ein grosser Teil von Samariterinnen und Samaritern. «Rekrutierungsschwierigkeiten kennen wir nicht», sagt Beat Baumgartner, Präsident des Vereins firstresponder.be. Sie erhielten auch regelmässig positive Rückmeldungen, wonach Patienten überlebt haben. Hingegen hapere es noch bei der Zusammenarbeit unter den Kantonen, obschon der Herzstillstand nicht an der Kantonsgrenze aufhöre. Baumgartner wünscht sich deshalb, dass die Idee der First Responders schweizweit noch besser Fuss fasst. «Mit wenig Geld können so sehr viele Menschenleben gerettet werden.»

Nationale Strategie in Sicht

So tut man sich auch im Kanton Zürich schwer mit dem Aufbau eines einheitlichen First-Responder-Systems. «Es sind einfach zu viele Akteure im Spiel», konstatiert Matthias Meier von der First-Responder.ch GmbH. «Neben Gemeinden sind auch die Rettungsdienste, Feuerwehren und Polizeien involviert.» Meier weiss, wovon er spricht, er unterstützt seit Jahren im Raum Zürich gerade diese Akteure mit Schulungen und Beratungen. Er glaube daher nicht, dass eine landesweite Organisation ohne Bundesvorgaben funktioniere. Zuversichtlicher ist Roman Burkart, Präsident der Swiss Resuscitation Council (SRC), worin sämtliche Akteure der Rettungsszene Schweiz organisiert sind: «Wir sind aktuell daran, eine nationale Strategie zu erarbeiten.»
Stefan Gasser findet derweil einen Ausgleich von seiner oft belastenden Tätigkeit nicht nur unter seinen Feuerwehrkollegen. Judo, Skifahren oder Biken helfen ihm ebenso wie seine Familie mit zwei Kindern, die unterdessen mit seinen ständigen Abwesenheiten leben gelernt hat. «Er braucht das, das macht ihn glücklich», meint seine Frau und zwinkert ihrem Mann zu.

Wie werde ich ein «First Responder»?

Jedem kann es einmal passieren, dass er mit einem zusammengebrochenen, leblosen Menschen konfrontiert wird. Notfälle kommen immer überraschend. Was aber ist dann zu tun? Wer einst zum Beispiel für die Autoprüfung einen Nothelferkurs besuchte, kann sich vielleicht noch vage erinnern:
— Schnelle Umgebungskontrolle, ob der Standort sicher ist (vor allem bezüglich Verkehr, Strom, Gas, Gifte);
— Bewusstlose Person: Kontrollieren, ob die Atmung fehlt oder nicht mehr normal funktioniert;
— Hilfe anfordern, Notruf 144 alarmieren;
— Wenn keine Atmung mehr festgestellt werden kann, mit der Reanimation beginnen. Das heisst: stossweise auf den Brustkorb drücken. Man kann nichts falsch machen – ausser nichts tun. Mehr Informationen unter www.resuscitation.ch. Wer mehr leisten will, bildet sich zum «First Responder» weiter. First Responders sind im Prinzip besser geschulte und regelmässig weitergebildete Nothelfer, oftmals Samariter, Polizisten oder Feuerwehrleute.
Das aus den USA stammende Konzept der First Responders ist in der Schweiz allerdings (noch) nicht einheitlich geregelt. Der einzige gemeinsame Nenner ist: Man will mit der Ersten Hilfe die
Zeit bis zum Eintreffen der Ambulanz verkürzen. Ansonsten regiert der kantonale Föderalismus. Weder ist die Ausbildung schweizweit geregelt noch besteht eine offizielle Plattform.
In den Kantonen Tessin, Bern, Freiburg, Waadt, Wallis, Solothurn und Basel-Stadt kann man sich am besten direkt über die App Momentum anmelden. Gute Anlaufstellen für weitere Informationen sind auch der Interverband für Rettungswesen (www.ivr-ias.ch) sowie die Schweizerische Herzstiftung (www.swissheart.ch). (mü)

Artikel als PDF:
Selbstlose Lebensretter.pdf

Quelle:
Stefan Müller, Selbstlose Lebensretter, in: Tages-Anzeiger, 10.12.2018, S.31.
Mit freundliche Genehmigung.

 


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